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Contergan-Geschädigte Kaputte Körper und wenig Geld
Welchen Preis sie für ihr selbstständiges Leben zahlen müssen, wird vielen Contergan-Geschädigten jetzt erst klar: körperliche Folgeschäden - verursacht durch jahrzehntelange Fehlbelastung. Gerontologen der Universität Heidelberg haben die aktuelle Lebenssituation der Contergan-Geschädigten untersucht und empfehlen eine Erhöhung der Renten.
Autor: Franziska Haack Stand: 01.02.2013
Wenn der Familienausschuss des Deutschen Bundestags am heutigen Freitag tagt, werden die Besucherreihen anders besetzt sein als gewöhnlich: Menschen mit kurzen Armen, fehlenden Beinen oder Gehörlose - allesamt Contergan-geschädigt. Über 200 der insgesamt 2.400 Betroffenen aus ganz Deutschland wollen anreisen. Denn bei der Anhörung geht es um sie - genauer gesagt: um ihre Lebenssituation. Der Bundestag muss sich mit der Folgeschäden-Problematik befassen, weil die Rente der Contergan-Geschädigten seit Jahren aus Steuermitteln bezahlt wird.
Fast alle Contergan-Opfer leiden an Folgeschäden
Neben verschiedenen Interessensvertretern tritt auch Professor Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, als Redner auf. Im Januar veröffentlichte sein Institut eine Studie über Contergan-Opfer. Aus der Studie geht unter anderem hervor, dass Fehl- und Überbelastung nicht nur die vorgeburtlichen Missbildungen verschlimmert haben, sondern auch zu neuen Schäden geführt haben, den sogenannten Folgeschäden:
Über 90 Prozent der Betroffenen haben heute Probleme mit Wirbelsäule und Becken, die jedoch nur bei gut der Hälfte angeboren sind.
Auch die Schädigung innerer Organe wie Herz oder Nieren ist im Laufe der Jahrzehnte von 38 auf 62 Prozent gestiegen.
Die Folgeschäden unterscheiden sich je nach Ausprägung der Behinderung: Probleme mit den unteren Extremitäten zum Beispiel treten am häufigsten bei Kurzarmern auf, da diese viel mit Füßen und Beinen kompensieren mussten.
Geschädigtenrente reicht nicht: Beispiel Lilli Eben
Lilli Eben (51) gehört zu den Contergan-Geschädigten mit kurzen Armen. Lange kam die Münchnerin mit ihrer Behinderung gut zurecht, als Alleinerziehende versorgte sie sich selbst und ihre beiden Kinder ohne Hilfe. Mit dem Rest ihres Körpers und einigen Hilfsmitteln konnte sie ihre kurzen Arme ausgleichen. Doch mittlerweile fallen ihr selbst einfache Tätigkeiten schwer. Manchmal kann sie nicht einmal mehr einen Löffel hochheben. Bandscheibenvorfälle, Arthrose und kaputte Zähne machen ihr zu schaffen, dazu kommen Schübe von Kraftlosigkeit und Schmerzen. Mittlerweile ist sie auf Unterstützung durch andere angewiesen. Das Problem: Ihre Geschädigtenrente reicht nicht, um sich die nötige Assistenz zu holen.
Bundestag soll Contergan-Geschädigten helfen
Die Studie der Universität Heidelberg zeigt: Den meisten Contergan-Geschädigten geht es wie Lilli Eben. Sie leiden an den Folgeschäden der Behinderung, brauchen zunehmend Hilfe und leiden an chronischen Schmerzen. Die Forscher haben daher einen Katalog an Handlungsempfehlungen zusammengestellt, die den Betroffenen das Leben erleichtern sollen:
Was Contergan-Geschädigte jetzt brauchen
Zunehmende gesundheitliche Einschränkungen bedeuten höhere Lebenshaltungskosten. Die Conterganrente ist wichtig, um diese zu finanzieren. Außerdem muss sie Einkommensverluste auffangen, wenn die Geschädigten nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können. Beides wird in nächster Zeit zunehmen, die Rente sollte daher deutlich erhöht werden. Bei über 35 Prozent der Geschädigten reicht die Rente bereits heute nicht, um ihre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern.
Kinder und Eltern der Geschädigten werden in Zukunft häufiger nicht in der Lage sein, die nötige Assistenz zu gewährleisten, weil sie von zu Hause ausziehen bzw. selbst pflegebedürftig werden. Zudem steigt der Bedarf an Hilfeleistungen, wenn die körperliche Verfassung der Contergan-Opfer schlechter wird. Notwendige Assistenz muss daher laufend dem aktuellen Bedarf angepasst werden und allen Betroffenen unabhängig von eigenen finanziellen Mitteln zur Verfügung stehen.
Contergangeschädigte haben einen erhöhten Bedarf an medizinischen Leistungen. Sie sollten bei der Bewilligung solcher Leistungen daher nicht als Regelfall behandelt werden. Zur optimalen Versorgung gehört die Möglichkeit, Langzeitrezepte für Physiotherapie, Massage oder Osteopathie zu bekommen.
Contergangeschädigte sollten ohne finanziellen Aufwand mit den erforderlichen Hilfsmitteln versorgt werden. Für den Fall eines technischen Defekts müssen kurzfristig Ersatzgeräte zur Verfügung stehen, damit Mobilität, Seh- oder Hörfähigkeit gesichert sind. Da nur Gebisse, aber keine Zahnimplantate von den Krankenkassen übernommen werden, sollten Betroffene gegebenenfalls von anderer Seite finanzielle Unterstützung bekommen.
Die 100 Millionen Mark, die Contergan-Hersteller Grünenthal als Entschädigung gezahlt hatte, waren bereits Mitte der 90er Jahre aufgebraucht. Seitdem kommt der Staat für die Renten auf. Nach der Aufregung um den Film "Eine einzige Tablette" verdoppelte die Bundesregierung 2008 die Sätze der Contergan-Renten. Auch Grünenthal überwies weitere 50 Millionen Euro an die "Conterganstiftung für behinderte Menschen", die für die Auszahlung der Renten zuständig ist. Die Höhe der Rente orientiert sich am Grad der Behinderung, derzeit liegt der Höchstsatz bei 1127 Euro. Die Bundesregierung könnte die Sätze nun erneut erhöhen, wie es die Gerontologen der Universität Heidelberg und die Interessensvertreter der Opfer fordern.
Der Contergan-Skandal
1957 brachte die Firma Grünenthal ein neues Schlafmittel auf den Markt. Contergan galt damals als unbedenklich und wurde speziell schwangeren Frauen empfohlen. Mit fatalen Auswirkungen, denn schon eine einzige Tablette reichte aus, um die Entwicklung eines Fötus gravierend zu beeinflussen. In der Folge kamen 5.000 bis 10.000 Kinder mit Fehlbildungen zur Welt. Erst 1961 erkannte man den Zusammenhang zwischen der Häufung behinderter Säuglinge und dem Schlafmittel. Die Firma Grünenthal musste das Mittel vom Markt nehmen.