Kunstfehler oder Schicksalsschlag? Vor dem Oberlandesgericht wird über ein Schmerzensgeld für die schwerst behinderte Victoria (9) verhandelt
MÜNCHEN Für Victorias Mutter Helga (37) ist es die Hölle. Noch einmal muss sie sich im Gerichtssaal stundenlang anhören, was in diesen schrecklichen Tagen im September 2003 mit ihrem damals fünf Monate alten Baby passierte.
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Victoria litt unter einer Entzündung im linken Bein. Die Ärzte im Krankenhaus gaben ein Antibiotikum. Doch Victorias Zustand blieb schlecht - der Puls raste, das Mädchen keuchte, wurde grau im Gesicht. Am nächsten Morgen wird es dramatisch. Das Herz bleibt stehen, vier Mal muss Victoria reanimiert werden. Die Ärzte amputieren ihr Bein und am Ende trägt die Kleine doch einen schweren Hirnschaden davon.
Victoria ist für den Rest ihres Lebens ein Pflegefall. „Sie erkennt Mama und Papa“, berichtet Vater Volker Heun (43). Aber ansonsten kann sie nichts alleine machen. Derzeit kümmern sich die „Helfenden Hände“ in Neuaubing um das Kind. Ihre Eltern freuen sich über jeden kleinen Fortschritt.
Haben die Ärzte damals Fehler gemacht? Das Landgericht München meinte ja und verurteilte sie zu einem Schmerzensgeld von 400<TH>000 Euro. Außerdem sollten die verantwortlichen Ärzte für künftige Kosten bei der Pflege des Kindes aufkommen. Die Mediziner gingen in Berufung, der Fall landete gestern beim 1. Senat des Oberlandesgerichts.
Zentrale Frage: Hätte eine Blutgasanalyse um 7.30 Uhr am 19. September 2003 Schlimmeres verhindert und war sie deshalb spätestens zu diesem Zeitpunkt zwingend notwendig? Eine solche Analyse hätte zumindest die Übersäuerung des Blutes bewiesen, das Kind wäre wohl sofort auf die Intensivstation gekommen. Da diese Analyse aber nicht gemacht wurde, verging wertvolle Zeit mit katastrophalen Folgen für den Säugling.
Der gerichtliche Gutachter, ein Kinderchirurg aus Regensburg, hatte die Blutgasanalyse im schriftlichen Gutachten nicht zwingend genannt, in der mündlichen Verhandlung beim Landgericht aber schon. Gestern dann die nächste Kehrtwende. Sinnvoll sei die Analyse, zwingend notwendig aber nicht. Überhaupt sei das Mädchen um 7.30 Uhr noch kein Notfall gewesen. Es bestand also auch kein Anlass, den Behandlungsplan zu ändern.
Angesichts der vielen Widersprüche schlugen die Richter einen Vergleich vor. Kommt dieser nicht zustande, muss vielleicht ein neues Gutachten her. Für Victorias Mutter würde das Martyrium weitergehen.